PERRY-RHODAN-Kommentar 2277


TERRA-NOSTALGIKER


Schon die Versetzung der Erde in den Mahlstrom und die damit verbundene spätere Aufnahme von 20 Milliarden Menschen durch ES hatte Terra quasi die »Urbevölkerung« gekostet, so dass in den Jahrhunderten nach dem »Unternehmen Pilgervater« zur Wiederbesiedlung zwar eine neue Menschheit heranreifte, diese jedoch aus Nachkommen ehemaliger Auswanderer und Kolonisten entstanden war.


Später dann hatten die galaktischen Völker insgesamt, im Besonderen aber die Terraner, in den »Dunklen Jahrhunderte« der Monos-Diktatur mehr als nur die Freiheit verloren. Ab etwa 580 NGZ waren alle Bewohner des Solsystems an das Simusense genannte syntronische Netzwerk angeschlossen gewesen, so dass diese Sise-Bürger nur mehr ein Scheinleben führten, von der Realität in eine fiktive Erlebniswelt geführt, die die Betroffenen in einer Illusion gefangen hielt.


Nach der Befreiung von Monos im Jahr 1147 NGZ hatte Terra noch lange mit den Simusense-Nachwirkungen zu kämpfen – bis Mitte 1149 NGZ waren 750 Millionen Menschen befreit; im Mai 1163 NGZ lebten auf Terra wieder drei Milliarden Menschen, nur noch 20.000 waren im Simusense vernetzt. Was sich in diesen Sätzen vergleichsweise »leicht« anhört, stellte in Wirklichkeit eine Zäsur ohnegleichen dar, die in mancher Hinsicht selbst jetzt noch nicht überwunden ist.


Abgesehen davon, dass seither nur knapp 200 Jahre verstrichen sind und im Jahr 1333 NGZ noch immer viele Menschen leben, die Simusense als Kind, Jugendlicher oder junger Erwachsener am eigenen Leib erlebt haben, bedeutete diese Scheinwelt nicht nur Unfreiheit. Sie beraubte die Menschheit ihrer Vergangenheit und verhinderte ihre Weiterentwicklung, war gewissermaßen ein »Komplettaustausch des kollektiven Bewusstseins« vor allem der Erdbevölkerung, nachdem bereits zuvor schon die »Körper« durch Neusiedler ersetzt worden waren.


Dass die weiteren Krisen keineswegs eine ruhige Entwicklung gestatteten und die Atempausen stets nur wenige Jahrzehnte umfassten, mag vordergründig zwar ganz gut »weggesteckt« worden sein, dürfte aber unter der Oberfläche in vielfacher Hinsicht bohren und nagen. Letztlich ist es zweifellos mit ein Hauptgrund, weshalb »die Terraner« noch längst nicht richtig »zu sich selbst zurückgefunden« haben. Wie auch? – Sie sind ja genau betrachtet nicht einmal mehr die »Urterraner«.


Insbesondere der Verlust der eigenen Vergangenheit, der Traditionen, Überlieferungen und was sonst alles dazugehörte durch die Simusens-Versklavung führte schon recht bald nach der Befreiung aus der Scheinwelt zu einer Entwicklung, die bis heute anhält und eher stärkeren als schwächeren Zulauf erlebt: Mehr und mehr Menschen, anfangs belächelt oder als »Spinner« abgetan, wurden zu so genannten Terra-Nostalgikern, zu Leuten, die Vergangenes pflegten, aus NATHANS und anderen Archiven hervorkramten und bis in die letzten Haarspitzen hinein mit Leben erfüllten – mitunter sogar so sehr, dass es einen echten Vertreter der jeweiligen Zeit und Umgebung eher erstaunt oder gar entsetzt hätte. In vielen Dingen kam es natürlich auch zu massiven Übertreibungen, um nicht zu sagen puren Entstellungen.


Ein Ende dieser Entwicklung ist noch lange nicht abzusehen. Zweifellos wird es in der einen wie der anderen Richtung Pendelausschläge geben, ehe ein gutes und gesundes Verhältnis zwischen Altem und Neuem erreicht sein wird – einschließlich aller mit einem solchen Zustand der Selbstsuche und der damit bis zu einem gewissen Grad zweifellos vorhandenen »Instabilität« verbundenen Aspekte.


Der Schauplatz des vorliegenden Romans ist hierfür markantes Beispiel: Wie viele andere Städte auch hat Neapel die »Dunklen Jahrhunderte« nur im zerfallenen, heruntergekommenen oder sogar zerstörten Zustand überstanden. Rasch wurde jedoch der Wiederaufbau in Angriff genommen, bei dem viele Terra-Nostalgiker ihren Einfluss geltend machten und beispielsweise dafür sorgten, dass Straßennamen und dergleichen weitgehend im »klassischen Italienisch« gehalten sind. Ein Großteil der etwa 1,5 Millionen Bewohner spricht neben dem Interkosmo den spezifischen neapolitanischen Dialekt.


Neapel gilt als hervorragendes Beispiel für die gute Kombination von »Altem« und »Modernem«: Die Kernstadt entspricht vom Flair weitgehend dem 20./21. Jahrhundert alter Zeitrechnung, ohne jedoch dessen negative Seiten ebenfalls übernommen zu haben, während am Stadtrand sowie im Golf von Neapel selbst modernste Hochhäuser errichtet wurden und sich hinter »alten« Fassaden moderne Technik verbirgt, die zu einem großen Teil inzwischen auch auf die neuen Bedingungen der Hyperimpedanz umgerüstet ist.

Rainer Castor