Als klar formulierte Disziplin und Vorgehensweise hilft die Bionik, die bei der »Technischen Biologie« entdeckten und erforschten Aspekte einer Umsetzung und Anwendung zuzuführen.
Bei der Materialbionik steht im Blickpunkt des Interesses, dass die Natur Materialien entweder in einem einmaligen »Gussvorgang« oder in einem schichtweisen Aufbau entstehen lässt, wenn Substanzen von Zellen und Zellschichten abgegeben werden. Das reicht von den Silikatstrukturen bei Diatomeen- und Radiolarienskeletten über horn- oder chitinartige Substanzen bin hin zu elastischen Fasern beim Knochen.
Das Studium biologischer Materialien führt im Rahmen der Werkstoffbionik zu neuartigen Werkstoffen. Vorbilder sind beispielsweise die Mehrkomponentenbauweise biologischer Materialien und Stoffe, die eine Vielzahl von Anregungen und Umsetzungsmöglichkeiten im makromolekularen und im Mikrobereich liefern.
Dem Lotos-Effekt liegt zum Beispiel die scheinbar widersprüchliche Forderung nach einer rauen als Grundlage einer sauberen Oberfläche zugrunde – benannt nach der Heiligen Lotusblume, die in den asiatischen Religionen als Symbol der Reinheit gilt, weil sich die Blätter makellos sauber aus dem Schlamm der Gewässer entfalten.
Die fein genoppte und mit Wachskristallen aufgeraute Lotusblatt-Oberfläche bietet Wassertropfen so wenig Kontaktfläche, dass die Anziehungskräfte der Wassermoleküle aus den flachen Tropfen runde Perlen machen. Rollen sie nun über die ebenfalls nur lose aufliegenden Schmutzpartikel, werden diese vom Wasser benetzt und haften an der Tropfenoberfläche. Die Kontaktfläche zwischen dem Tropfen und den Partikeln ist größer als zwischen den Partikeln und der Wachsschicht, so dass sie mitgerissen und vom Blatt entfernt werden.
Biologische Strukturelemente sowie Formbildungsprozesse bieten unkonventionelle technische Vorbilder für Seilkonstruktionen (Spinnenetze), Membran- und Schalenkonstruktionen (biologische Schalen und Panzer), schützende Hüllen, die Gasaustausch erlauben (Eischalen), ideale Flächendeckungen (Blattüberlagerungen) und Flächennutzungen (Wabenprinzip).
In der Natur mögen die Formen unterschiedlich sein, dennoch lassen sich an den verschiedensten Lebewesen wie auch an den Strukturen der unbelebten Natur im Mikro- als auch im Makrokosmos nicht nur sehr viele Gemeinsamkeiten, sondern auch eine geringe Anzahl an Grundformen erkennen.
Die Y-Verbindung ist eine besonders effiziente Verbindung für drei Punkte mit der Unterteilung des Raums in drei gleiche Teile, weil 120-Grad-Winkel eine ausgewogene Mischung von Zug- und Druckkräften ergeben und Kräftespitzen vermeiden. Einem Minimum an Baumaterial steht ein Maximum an Wirkung gegenüber, so dass Y-Strukturen bei vielen kräftebeanspruchten Naturbauwerken wie zum Beispiel bei der Astanordnung von Bäumen auftreten. Selbst die Linien von Trocknungsrissen bilden bevorzugt 120-Grad-Winkel.
Bei Sechskantwaben wie jenen der Bienen liegen sechs solcher Y-Verbindungen vor. Weil alle Wabenzellen die Zellenwände der Nachbarzellen mitnutzen, ergibt sich höchste Stabilität bei geringstem Gewicht. Zweigstrukturen erscheinen aus unterschiedlichen Bereichen auffallend ähnlich: ob Blutgefäße, Saftbahnen bei Pflanzen, Lungengewebe, Aufbau von Radiolarien, Adern von Baumblättern, Baumzweige oder der Verlauf von Blitzentladungen.
Wirbel sind ebenfalls ein Musterbeispiel bionischer Prinzipien, während Seilbauwerke von Netzen maximal Gewicht sparen, da die Belastung nur von den Netzfasern übernommen wird, sich dazwischen aber sehr große Lufträume befinden. Die bei Spinnennetzen zwischen Gräsern höhenversetzten Aufhängepunkte ergeben räumlich gekrümmte und dadurch formstabile Netze. Beim Knochenaufbau finden sich je nach statischer Belastung unterschiedlich große Hohlräume neben der netzartigen Materialverteilung. Bei Bäumen wiederum ermöglicht die sukzessive Verästelung die größtmögliche Flächenüberdeckung bei gegebenem Gesamtgewicht von Dach (Laubkrone) und Stützen (Baumstamm).
Ob Klettprinzip, widerstandsvermindernde Elastizität der Delphinhaut, Turbulenzdämpfung des Schleimes von Fischen, Stofftrennungseigenschaften biologischer Membranen oder die Inkontinuität von Bewegungen (Schlängeln von Schlangen und Würmern, Fischflossenbewegung als wellenartige Fortbewegungsform, kontinuierlicher Wechsel zwischen Vor- und Rückwärtsströmung der Atmung, Hüpfen von Insekten oder Springen von Wirbeltieren) – die natürlichen Vorbilder liefern viele Anregungen.
Rainer Castor