Wenn wir einmal die damit verbundenen ethischen und philosophischen Aspekte außen vor lassen, haben die Überlegungen des Vaianischen Ingenieurs Rintacha Sahin ohne Zweifel »eigentlich« etwas unerhört Faszinierendes an sich. Man konstruiere eine Zeitmaschine und nutze sie, um damit jederzeit in »unerwünschte« Entwicklungen einzugreifen und sie zu korrigieren, so dass am Ende als Ergebnis genau der gewünschte Zeitablauf herauskommt. Die TEFANI, so Sahins Plan, sollte durch die Zeit reisen und missliebige Entwicklungen der Kultur schon im Ansatz »ersticken«. Eine Art Temporalhygiene oder Zeitwacht also.
So weit die Theorie. Dass sich damit schon eine Menge Fragen und Zweifel verbinden, ist ein Thema für sich. Das beginnt bei der Frage, wer denn nun entscheidet, was die gewünschte Entwicklung sein soll, und es geht hin zur zweifelhaften Ethik, um nicht zu sagen Anmaßung, auf eine Weise in Raum und Zeit einzugreifen, die alle »normalen Manipulationen« bei weitem übersteigt.
Vielleicht war es vor diesem Hintergrund ganz gut, dass es Sahin trotz aller Bemühungen schon rein praktisch gesehen nicht gelang, die von ihm gewünschte »Zeitmaschine« zu konstruieren. Er legte zwar die Grundlagen, die später von den Eltanen der Letzten Stadt vollendet wurden, aber ein Erfolg in seinem Sinne war ihm nicht vergönnt – und das nicht nur, weil Anguela diese Experimente verbot und schließlich das Ende der Thatrix-Zivilisation weiteren Forschungen einen Riegel vorschob.
Betrachten wir das technologische Niveau der Vaianischen Ingenieure, sollte es ihnen und erst recht einem genialen Konstrukteur wie Sahin eigentlich gelingen, eine Zeitmaschine zu bauen. Nehmen wir überdies die Fertigstellung durch die Eltanen hinzu, wenngleich sie 160.000 Jahre auf sich warten ließ, wirkt Sahins Scheitern eher noch merkwürdiger.
Eine Hauptschwierigkeit dürfte gewesen sein, dass er nicht nur ein Aggregat wollte, das beliebige Reisen durch die Zeit gestattete, sondern damit sollten auch die ihm vorschwebenden tief greifenden Eingriffe möglich werden. Da er sich der mit Zeitschleifen und -paradoxien verbundenen Schwierigkeiten bewusst war, wollte er das bisherige Raum-Zeit-Kontinuum nachhaltig verändern, es nach seinen Ideen umgestalten.
Mit der Rintacha-Wandelzeit wollte er etwas formen, was deutlich über den bekannten Ablauf hinausging, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft förmlich nach Wunsch konstruieren, ganz wie ein Bauwerk, nur eben nicht im Raum, sondern in der Zeit!
Terranische oder besser galaktische Erfahrungen mit Zeitreisen und den dazu benötigten Geräten und Mechanismen vor Augen, erscheint es ziemlich wahrscheinlich, dass Sahins Ziel um einige Stufen zu hoch angesiedelt gewesen sein dürfte. Oder wie Anguela es formulierte: Ins Rad der Zeit einzugreifen, und damit in die Schöpfung an sich stand uns schlicht und einfach nicht zu. Dieses Recht besaßen, wenn überhaupt jemand, nur VAIA und ihresgleichen ... Und doch zeigte mir das die Unverhältnismäßigkeit seines Ansinnens. Die Zeit war zu groß für uns. Nicht um eine Nummer, eine Evolutionsstufe, sondern um unendlich viele.
»Normale« Zeitreisen setzen zwar schon einen beträchtlichen Aufwand und theoretischen Background voraus, aber die Umsetzung gelang mehrfach – sei es in Form der Zeittransmitter der Lemurer und Meister der Insel, beim akonischen Epotron oder dem Nullzeitdeformator. In all diesen Fällen dienten die Aggregate jedoch »nur« als Transportvehikel, das den Zeitreisenden ans gewünschte Ziel zu bringen hatte. Sobald er ausstieg, war er genau wie in seiner Herkunftsgegenwart Bestandteil dessen, was als »normaler Zeitablauf« erscheint.
Manipulationen im Sinne von umwerfenden Paradoxien oder gar Eigengestaltungen nach Sahins Vorstellungen dürften auf diesem Wege schwerlich zu erreichen sein. Durchaus möglich, dass genau aus diesem Grund die galaktischen Erfahrungen in Zeitschleifen mündeten, die letztlich nur das umsetzten, was ohnehin als Ablauf bekannt war.
Da es sich bei den »Sahin’schen Aggregaten« um eine »Zeitmaschine« handelte, deren Nullzeitfeld ausreichend dimensioniert war, auch große Objekte zu umhüllen, gezielt aus dem Standarduniversum zu reißen und in einer anderen »temporalen Bezugsebene« zu materialisieren, entstand bei Fian DeGater und seinem Wissenschaftler- und Technikerteam die »fixe Idee«, diese Chance zur Korrektur der Ereignisse zu verwenden.
Die Eltanen waren sich nicht sicher, welches Modell das Phänomen besser oder korrekter beschreibt: die Vorstellung des »Zeitflusses« bezogen auf ein Raum-Zeit-Kontinuum oder die Annahme ungezählter Paralleluniversen, von denen jedes im Sinne einer »Momentaufnahme« zu sehen ist. Ziel des Projekts Finsternis war jedenfalls der Versuch, das Reich Tradom schon in der Entstehung zu verhindern – im vollen Bewusstsein, dass eine »Zeitkorrektur« dieses Ausmaßes alles verändern würde, womöglich sogar ihre eigene Existenz auslöschen, sofern sie als Zeitreisende und Verursacher nicht in gewissem Maße als »außerzeitlich« anzusehen wären ...
Aber durch pure Zeitreise an sich ändert sich der Ablauf der Zeit ganz offensichtlich nicht. Die 160.000 Jahre des Reichs Tradom sind aller Erfahrung nach festgeschrieben, die »Trägheit der Zeit« nicht so ohne weiteres zu überwinden. Was immer in der Vergangenheit unternommen wird – es ist bereits Geschichte, und das Resultat wird so aussehen, wie es im Jahr 1312 NGZ bekannt ist.
Eingriffe im Sahin’schen Sinne erfordern ganz offensichtlich ein Niveau, das über das normaler Lebewesen hinausgeht. Geschöpfe ab dem Status einer Superintelligenz vermutlich, die teilweise oder ganz Bestandteil des Hyperraums und des Multiversums geworden sind und von dieser Warte aus einen ganz anderen Blickwinkel haben, denen die parallelen, alternativen, komplementären oder wie auch immer zu beschreibenden Universen zugänglich sind.
Rainer Castor