Beim Vorstoß zum Verbotenen Südkontinent Sikma haben Benjameen da Jacinta, Tess Qumisha und Norman an Bord von Eshmatay Amgens Luftschiff im Schutz »pararealer« Strömungen, die sie vor den Blicken der Valenter und der Messerwerfer verbergen, einen Stützpunkt erreicht, der zweifellos vom Reich Tradom eingerichtet wurde. Verschiedene Realitäten fließen hier ineinander, die Regeln der Kausalität sind nicht mehr verlässlich.
Hintergrund ist, dass der Planet Linckx eine ergiebige Fundstätte des Quinta-Metalls Yddith darstellt. Dieses ist in solcher Menge und Konzentration vorhanden, dass die gesamte Welt in eine hyperenergetische Blase gehüllt wird. Ständige Fluktuationen und Veränderungen – auch in Wechselwirkung mit den natürlichen Hyperstrahlungen der Sonne – haben Hyperstürme und exotische Erscheinungen zur Folge.
Dass Linckx auch in anderer Hinsicht von Bedeutung ist, wird durch die Anwesenheit der Messerwerfer unterstrichen – hier »Kreaturen von Quintatha« genannt. Zentrum des erreichten Gebäudekomplexes ist ein grob ovales, fünfhundert Meter breites Becken, in dem eine gallertartige, zuvor graue Masse schwarze und weiße Flecken ausbildet. Als sich der Blick des Zeroträumers auf die Masse konzentriert, stülpt sich aus ihr ein Gesicht nach außen, das aussieht wie aus schwarzen und weißen Flecken zusammengesetzt, die sich für Ben zu einem riesengroßen Abbild des eigenen Gesichtes ordnen. Im selben Augenblick fühlt sich der Arkonide in den Bann eines Zerotraumes gezogen, der eigentlich kein Traum ist, sondern eine parallel angesiedelte Realität ...
Im Roman wird geschildert, was Benjameen da Jacinta in seinem bizarr veränderten Zerotraum erlebt, denn während sich sein Körper weiterhin an Bord des Luftschiffes befindet, ist sein Bewusstsein in einem solchen Ausmaß in die parareale Wirklichkeit integriert, dass es für ihn absolut real wirkt, ja real ist. Derart real sogar, dass die Frage, ob sein »neuer« Körper nun konkret materialisiert ist oder nur ein aus dem Bewusstsein geborenes »pseudomaterielles Trugbild«, rein akademisch bleibt – denn würde er dort sterben, bedeutete das mit ziemlicher Sicherheit auch den Tod seines »Originals«.
Als wir erstmals von der Pararealistik hörten, die untrennbar mit dem Namen Sato Ambush verbunden ist, konnte von Anerkennung keineswegs die Rede sein. Ambushs Wissenschafterkollegen hatten dafür eher Spott übrig, sprachen von Blauer Magie, Muschelspiel oder Flimflam (PR-Computer 1271). Nach den Ereignissen im Frühjahr 427 NGZ rings um Chmekyr, den Pförtner des Loolandre, verstummte allerdings der Spott.
Vom Grundsatz her war Ambushs Theorie eigentlich nichts wirklich Neues oder Ungewöhnliches, denn die Existenz paralleler Universen hatte sich längst als Tatsache erwiesen. Neu war jedoch, dass sich Ambushs »Ebenen verschobener Wirklichkeit« nicht auf ganze Universen bezogen, sondern auf eng begrenzte Ausschnitte derselben, verbunden mit einer lokalen Änderung der Strangeness, so dass nur ein Stück des fremden Universums zugänglich wurde.
Mit seiner »Ki-Kraft« – einem von ch’i abgeleiteten japanischen Begriff mit der wörtlichen Bedeutung »das Wirken« – zeigte der Pararealist, dass bereits die vergleichsweise geringe »Bewusstseinsenergie« eines darauf trainierten Lebewesens ausreicht, um einen Übergang in den Bereich pararealer Wirklichkeiten hinein zu ermöglichen. Später musste er erkennen, dass es Unterschiede der Strangeness gibt, die so klein sind, dass sie nicht mehr exakt nachgewiesen werden können.
Sonderlich glücklich war Ambush nicht über diese Erkenntnis, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als die Pararealistik zu modifizieren – durch eine Ergänzung, die der klassischen Quantenmechanik ähnelte. Denn auf dem Niveau der kleinsten Unterschiede gibt es keine Gewissheit mehr, sondern nur noch Wahrscheinlichkeitsaussagen, so dass fortan von einer »Quantelung der Pararealistik« gesprochen werden musste (PR-Roman 1324).
Universen, die einander sehr ähnlich sind, wurden von dem Pararealisten als »parallele Wirklichkeiten« oder Pararealitäten definiert. Als Minimalunterschied zwischen zwei benachbarten Universen nannte Ambush eine einzige Charakteristik eines einzigen Quants. Für Quanten gilt jedoch die Unschärferelation, weil – im Gegensatz zum Beispiel zu einer Billardkugel – nicht gleichzeitig beliebig exakt Ort und Impuls (zum Beispiel die Ortskoordinate und die Impulskomponente eines Teilchens) bestimmt werden können: Je genauer die Messung des einen ist, umso ungenauer muss die des anderen ausfallen, wodurch Begriffe wie Bahn und Determiniertheit der Bewegung in der Quantenmechanik durch Wahrscheinlichkeiten ersetzt wurden.
Da ein gleiches Unbestimmtheitsprinzip auch für Energie und Zeit gilt, steht dieses in enger Verbindung mit der Existenz von Austauschkräften und virtuellen Zuständen, die innerhalb genügend kurzer Zeitintervalle das Entstehen (und Vergehen) virtueller Teilchen erlauben, ohne dass die dafür erforderliche Energie aufgebracht oder absorbiert werden müsste.
Infolge der Quantelung gilt auch bei den Pararealitäten eine Unschärfebeziehung, von einigen Theoretikern inzwischen »Hamillersche Unschärfe« genannt: Es kann nämlich nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, zu welchem Universum genau ein Teil oder Ausschnitt davon innerhalb einer Gruppe »direkt benachbarter« und somit einander extrem ähnlicher Universen gehört – sei dieses »Teil« nun ein unbelebtes Objekt oder eine bestimmte Person.
In den Grenzen der »Beobachtungsungenauigkeit« sind sie als gleichwertig anzusehen, und per »hyperphysikalischem Tunneleffekt« ist der Übergang von einem Universum zu einem anderen möglich. Handelt es sich um »eng begrenzte Ausschnitte« und nicht um ganze Paralleluniversen, wird eben von parallelen Wirklichkeiten oder Pararealitäten gesprochen.
Rainer Castor