PERRY-RHODAN-Kommentar 2115


ANGUELAS AUGE


Für einen Materialisten ist das natürlich alles Humbug: Glaube, Aberglaube, Spirituelles, Religion. Unabhängig davon, wie es nun genau genannt wird oder welche Inhalte sich damit verbinden, wird das alles mehr oder weniger über einen Kamm geschoren, als bedeutungslos, irrelevant, unlogisch oder was auch immer abgetan.

Ob zu Recht oder nicht, soll hier nicht diskutiert werden, denn ebenso unabhängig von dieser materialistischen Einstellung gibt es die der Gläubigen. Überall im bekannten Universum treffen wir nämlich auf Wesen, für die die rein materialistische Sicht eben nicht genügt, Wesen, denen ihr persönlicher oder kollektiver Glaube Kraft, Zuversicht und Halt verleiht, die in ihrer Religion Trost finden.

Und daran ändert selbst Hightech, die überlichtschnelles Reisen oder Vergleichbares gestattet, herzlich wenig, weil zwei verschiedene Ebenen angesprochen werden – einerseits die intellektuelle und andererseits die emotionale. Dass es Religion im Reich Tradom gibt, braucht also keineswegs zu verwundern. Interessant wird es allerdings, wenn wir uns vor Augen führen, was als höchste spirituelle Instanz gilt und dass diese in einem Maß institutionalisiert ist, das uns, bei aller Offenheit im Grundsatz, misstrauisch macht.

Das Auge Anguelas wird für den Sitz der »gottähnlichen, alles beschützenden guten Macht« namens Anguela gehalten, die »alles sieht und für die Lebewesen von Tradom sorgt«. Viele Tradomer glauben, dass nach dem Tod die Seele in das Unendliche Nichts hinter Anguelas Auge oder von Anguela selbst eingeht.

Problematisch hieran ist zweifellos, dass die »Anguelische Religion« als Reichsreligion Tradoms bei Androhung der Todesstrafe keine anderen Glaubensgemeinschaften neben sich duldet, obwohl niemand gezwungen wird, an Anguela zu glauben. Vordergründig liegt also der Schluss nahe, dass die Inquisition der Vernunft als höchste weltliche Instanz auf diese Weise sogar beim Glauben massiv Einfluss auf ihre »Schäfchen« nehmen will, sprich: ihre Herrschaft im intellektuellen wie auch emotionalen Bereich ausübt.

Die Kombination, um nicht zu sagen Verschmelzung von Religion und Macht ist nichts Neues. Das eine dient dann dem anderen ebenso als Deckmäntelchen wie Legitimation, und für die Betroffenen ist in dieser Institutionalisierung keine Unterscheidung von staatlicher Doktrin und religiösem Dogma mehr möglich.

Die Frage ist jedoch, ob es mit diesem vordergründigen Schluss getan ist oder ob er nicht zu kurz greift. Wie die Erlebnisse des Pombaren Ikanema Two gezeigt haben, ist der »Bruch« zwischen Glaubensaussage und Lebensrealität im Tradom-Alltag offensichtlich. Anguela als beschützende gute Macht will nicht so recht dazu passen, Reichsreligion hin oder her. Fast hat es den Anschein, als schimmere hier etwas völlig anderes durch, etwas, das sich die Inquisition zwar zu Eigen gemacht hat, tatsächlich aber völlig konträr dazu ist. Gar etwas, das aus der Zeit vor der Inquisition stammt und seine Ursprünge bei der legendären Thatrix-Zivilisation hat?

Noch lässt sich diese Frage nicht beantworten, aber wir sollten sie im Hinterkopf behalten ...

Quasi als »Sitz« Anguelas und somit realastronomisches Objekt finden wir in der Sternenbrücke zwischen den Galaxien Tradom und Terelanya die Glutzone von rund 5000 Lichtjahren Durchmesser. Diese Zone wird als ein dem Kessel von DaGlausch vergleichbares Gebilde angesehen, sie ist also der hiesige PULS, da wir es beim Reich Tradom mit einem Thoregon zu tun haben. Ist »Anguela« demnach die hiesige Superintelligenz beziehungsweise der Zusammenschluss mehrerer Superintelligenzen?

Auch diese Frage bleibt unbeantwortet – weil die Expedition der KARRIBO in dieser Hinsicht keine Erkenntnisse erlangt. Was stattdessen herausgefunden wird, schildert der Roman und vergrößert eher den Fragenkatalog, als dass er ihn verkleinern würde. Wir können davon ausgehen, dass es bestimmt nicht die einzige und letzte Untersuchung von Anguelas Auge war, denn die damit verbundenen Rätsel und Geheimnisse harren weiter ihrer Entschlüsselung.

An dieser Stelle sollten wir deshalb einen Blick auf den »Hintergrund« der Thoregons werfen, soweit er bekannt ist oder eben als »gesichert« gelten kann. Als ziemlich, um nicht zu sagen völlig unklar muss bis auf weiteres die Rolle der Brücke in die Unendlichkeit betrachtet werden, die über die kleinen wie auch die Mega-Pilzdome unzweifelhaft eine maßgebliche Funktion innehat.

Wenn wir die Thoregons von DaGlausch und Segafrendo als Vergleich heranziehen, ist das weitere übereinstimmende Element, dass als »Initiatoren« die Helioten in Erscheinung treten und mit Thoregon einen Weg unabhängig von Kosmokraten und Chaotarchen, von Moralischem Kode und dessen Einflüssen weisen. Etwas, das auf den ersten Blick vielleicht als anstrebenswert erscheinen mag, aber schon in der Gründungsphase den erbitterten Widerstand der Hohen Mächte herausfordert und in der Zeit, bis »der PULS stabilisiert ist«, wegen des damit verbundenen Machtvakuums kaum minder unangenehme »Nebenwirkungen« hat – Stichwort: »Jahrtausende der Kriege«.

Wurde überdies zunächst noch davon ausgegangen, dass Thoregon »positiv« zu sehen sei, zeigten schon die Reisen der Ritter von Dommrath, dass es im gleichen Maße auch als »negativ« oder »neutral« zu umschreibende Thoregons gibt. Offensichtlich hat also der Status der beteiligten Superintelligenzen – »positiv«, »negativ« oder »neutral« – eine eher untergeordnete Bedeutung, wenn es um »Thoregon« geht.

Dieses wiederum lässt die ohnehin inzwischen als dubios einzuschätzenden Helioten noch mehr in einem zweifelhaften Licht erscheinen. Kann es sein, dass es ihnen wie auch den jeweiligen Superintelligenzen »nur« um die »Unabhängigkeit« geht, das Ausbrechen aus der »Gängelung« höherer Mächte und Prinzipien – und der Rest unter den Tisch fällt? Fast sieht es so aus.

Rainer Castor