Die Vorstöße von Atlan und seinen Begleitern im Inneren des rätselhaften Gebildes namens ZENTAPHER vervollständigen sich nur langsam zu einem Gesamtbild, was aber angesichts der zutage tretenden Größenordnungen nicht zu verwundern braucht. Kintradim Crux, der als Architekt von ZENTRAPHER bezeichnet wird und vielleicht der Erbauer ist, hat zweifellos etwas überaus Bemerkenswertes geschaffen.
Vom Standarduniversum aus betrachtet, ist ZENTAPHER die »Dunkle Null« des Sperrplaneten Clurmertakh. Etwa auf halbem Weg zwischen Äquator und Südpol – exakt auf dem 41. Breitengrad Süd, rund 6092 km vom Äquator und 7280 km vom Südpol entfernt – ist vom All aus eine Art »Loch« zu erkennen; eine Erscheinung, die auf den ersten Blick an den Großen Roten Fleck des Jupiters erinnert.
Aber dieses Loch hat mit einem Sturm nichts zu tun. Es ist vielmehr ein Bereich, der wie aus der Schöpfung »herausgestanzt« scheint; eine Kugel von beachtlichen 36 Kilometern Durchmesser, die etwa zu zwei Dritteln in die Masse des Planeten eingelassen ist. So lauten zumindest die Meßergebnisse der Massetaster, die aus jener 36-Kilometer-Zone selbst keinerlei Daten hereinbekommen.
Sämtliche Ortungsergebnisse definieren die Dunkle Null zwar als ein »eigenes, autarkes Universum«, aber von außen ist eine genaue Vermessung der Dunklen Null nicht möglich. Denn erstens fallen grundsätzlich immer mehr technische Geräte aus, je weiter man sich ihr nähert, und zweitens unterliegen Expeditionen stets ab etwa fünfzig Kilometern vor Erreichen der Dunklen Null einer Desorientierung, bei der es sich offensichtlich um einen Strangeness-Effekt handelt. Sämtliche Störstrahlung wie auch die desorientierende Wirkung lassen jedoch ein Dutzend Meter vor der imaginären Grenze nach und kommen ab der Acht-Meter-Grenze vollständig zum Erliegen, so daß direkt an der Wandung keine unerklärlichen Erscheinungen mehr auftreten.
ZENTAPHER ist für seine Bewohner die Welt, im Verhältnis zum Standarduniversum tatsächlich ein eigenes Universum, eingebettet in den übrigen Kosmos. Abmessungen und Zeitabläufe im Inneren von ZENTAPHER sind hierbei nicht identisch mit denen im Außen. Das Innere des zentaphischen Raums »beschützt« die Strangeness-Barriere, so daß eine Dimensionssphäre mit einem Innendurchmesser von 38 Kilometern entsteht, deren Innenfläche in ihren raschen, strömungsartigen Bewegungen wie ein fließendes Wolkenfeld wirkt.
In gewissem Sinne kann die Dunkle Null als »dreidimensionaler Schatten« betrachtet werden – vergleichbar den schattenlosen Obelisken der Cynos –, da ZENTAPHER selbst nicht Bestandteil des Standarduniversums ist, sondern sich »außerhalb« befindet. Wir können uns das zur Veranschaulichung beispielsweise so vorstellen, daß das Standarduniversum eine Fläche ist, über der eine Kugel schwebt – und genau wie ein normaler Schatten je nach Lichtquelle in seiner Ausdehnung nicht identisch ist mit dem Objekt, das den Schatten auf die Fläche wirft, so gilt auch im Fall von ZENTAPHER, daß der Innendurchmesser der Modellkugel von 38 Kilometern nicht dem Außendurchmesser des Schattens von 36 Kilometern entspricht.
In dem Wirbeln des Wolkenfeldes existiert eine Ordnung, die sich mathematisch erfassen läßt. Sämtliche Punkte und Flächen auf der Innenseite ZENTAPHERS fließen zwar, doch stets bleibt in diesem Konglomerat eine gewisse Gesamtsumme gleich. Diese »Wolkenkapsel« ist das Medium, in das 612.000 »Mikrouniversen« eingebettet sind; die sogenannten Kabinette, die eine Eigenzeit haben können und in jedem Fall eine eigene Räumlichkeit besitzen – also Ausdehnungen, die zum Teil bis zu hundert Kilometer erreichen. Die Kabinette wiederum sind ebenfalls durch eine Strangeness-Barriere vom Innenraum ZENTAPHERS abgetrennt.
Auch hierzu eine Veranschaulichung: Innenraum und Wolkenkapsel gleichen dem von M. C. Escher 1960 in dem Holzschnitt Kreislimit IV dargestellten Motiv,
das die künstlerische Darstellung einer hyperbolischen Ebene ist. Das Mittelfeld weist eine komplexe Flächeneinteilung auf, in der Engel und Teufel als Figur und Hintergrund einander abwechseln: in der Bildmitte drei schwarze Teufel, daran schließen sich sechs weiße Engel, diese wiederum werden von zwölf schwarzen Teufeln verfolgt. Je weiter wir uns von der Mitte entfernen, um so kleiner werden die Figuren, ohne jedoch das besondere Merkmal des lückenlosen Ineinandergreifens zu verlieren. Der Kreis schließt sich, wenn wir die Zahlenreihe solange verdoppeln bis wir am Rand scheinbar unendlich viele Teufel und Engel als schwarze und weiße Punkte sehen.
Hintergrund ist eine besondere Form nichteuklidischer Geometrie, die sogenannte hyperbolische Geometrie des französischen Mathematikers Henri Poincaré (1854 bis 1912). Dieser hatte das Modell entwickelt, bei dem eine unendliche Fläche innerhalb eines großen, aber begrenzten Kreises liegt. In gleicher Weise, nun jedoch auf die Innenseite der Hohlkugel von ZENTAPHER bezogen, läßt sich die dimensional verschobene Anordnung der Kabinette der Wolkenkapsel deuten: Auch hier wird deutlich mehr Fläche und Volumen in den begrenzten Raum von 38 Kilometern Innendurchmesser »gepackt« – nur mit dem Unterschied, daß die Anzahl der Kabinette auf insgesamt 612.000 begrenzt bleibt und diese ihrerseits »Mikrouniversen« mit eigenem Raum und eigener Zeit darstellen, während ZENTAPHER als Ganzes im Standarduniversum »nur« die Kugel der Dunklen Null von 36 Kilometern Durchmesser ergibt.
Im exakten Mittelpunkt der von Wolken begrenzten Hohlkugel schwebt die Entree-Station, die als einziger Punkt von Startac Schroeder per Teleportation erreicht werden konnte. Sie dient als eine Art Verschiebebahnhof zwischen »in ZENTAPHER« und »außerhalb«. Von hier aus starten auch die Gondel genannten Transportmittel zu den Kabinetten, deren Erkundung Atlan und seine Begleiter weiter in Angriff nehmen ...
Rainer Castor