Je länger der Aufenthalt der Gos’Tussanii auf Ertrus und im Kreit-System dauert, desto klarer wird das Dilemma, in das sich Imperator Bostich mit seiner Operation Stiller Riese gebracht hat.
Aus seiner Sicht hatte von der Strategie her das Vorgehen zweifellos sehr viel für sich: In Fortsetzung der seit Jahren praktizierten »Salamitaktik« sollte ein wichtiger Verbündeter der Liga Freier Terraner ausgeschaltet und seine Ressourcen für das Kristallimperium genutzt werden. Ziel waren also neben der Emotionautenakademie Etrukar die Produktionsstätten, einschließlich jener Werften, in denen die Kampfkreuzer der NEW KREIT-Klasse vom Stapel liefen.
Gleichzeitig war beabsichtigt, das raumfahrerische und kämpferische Potential der umweltangepaßten Riesen auszuschalten – und auch den Beweis zu führen, daß die Aagenfelt-Barrieren alles andere als Sicherheit versprechen. »Erklärt« und juristisch spitzfindig abgesichert wurde der blitzschnelle Vorstoß Richtung Ertrus mit einer »Strafexpedition«.
Doch schon die Hoffnung, durch die bedrohliche Präsenz der 4. Imperiumsflotte und die rasche Einsetzung von Kollaborateuren und »Marionetten« an maßgeblicher Stelle einen Sieg davonzutragen, erwies sich als Fehlschlag. Nach Mascant Kraschyn beißt auch der brutal-zynische Tato Forman da Ricce auf ertrusischen Granit.
Offensichtlich hat man auf der Seite der Kristallimperiums einen maßgeblichen Faktor vernachlässigt, den der Lemur-Historiker Ian Matzwyn mit Blick auf die Menschen folgendermaßen charakterisierte: ... kleine, fähige, zähe und meistens respektlose Stinker, die nicht totzukriegen sind. Manchmal gehen sie falsche Wege, oft hadern sie mit sich selbst und prügeln wie weiland im kleinen gallischen Dorf aufeinander ein – aber als Gegner sind sie ein Alptraum ...
Daß vor diesem Hintergrund die ertrusischen Riesen mindestens noch genauso Menschen sind wie ihre Verwandten auf Terra und anderen von Menschen besiedelten Welten, bekommen die Gos’Tussanii nun zu spüren. Für sie wird der Alptraum Realität – in Form der gesamten Palette, die Guerilla-Kampf zu bieten hat: Überfälle aus dem Hinterhalt, Sabotageakte, im kleinen Kreis organisierte Gewalthandlungen gegen die Besatzer, die bis zu brutalen Kamikaze-Einsätze reichen.
Hierzu wird der Vorteil der genauen Ortskenntnis ebenso eingesetzt wie die mehr oder weniger stillschweigende Unterstützung durch die gesamte Bevölkerung, der Kampf mit verstreuten und sehr beweglichen Einheiten sowie die gesamte Angriffstechnik des Untergrundkampfes, Attentate und was der Dinge mehr sind.
Zu beachten ist hierbei vor allem jener Aspekt, der langfristig gesehen durchaus entscheidend sein kann: Keine noch so gut ausgerüstete Raumflotte oder Armee, egal wie groß und motiviert sie auch sein mag, hat wirklich eine Chance, wenn sie sich auf die Guerillataktik des Gegners einläßt. Das liegt ganz einfach in der Natur der Sache – die Geschichte kann in dieser Hinsicht mit einer ellenlangen Liste von Beispielen aufwarten.
Sicher, keine Guerillatruppe ist unbesiegbar, ganz im Gegenteil. Aber zu ihrer Ausschaltung ist im allgemeinen ein derart brutales und vor allem umfassendes Vorgehen erforderlich, das eher das Ziel der Besatzung ad absurdum führt, als erfolgreich zu sein, läuft es letztlich doch auf Massenmord hinaus. Mascant Kraschyn muß dies geahnt, wenn nicht sogar gewußt zu haben, als er die Vernichtung der Hauptstadt Baretus anordnete.
Leider – und das ist wohl aus Sicht der kristallimperialistischen Besatzer die Tragik – vereinbart sich ein Vorgehen zur totalen Vernichtung wenig mit den von Imperator Bostich angestrebten Zielen, dem letztlich nicht an einer ausgebrannten Sternenwüste und vernichteten Industrie- und Wirtschaftswelten gelegen ist, sondern an einem Gos’Tussan in Glanz und Glorie ...
Diesen Zielen jedoch widersetzen sich die Ertruser. Aus ihren Reihen gibt es keine Kollaborateure, keine Überläufer, keine Speichellecker. Sie lassen sich weder einschüchtern noch unterkriegen. Sie kämpfen weiter, aus dem Untergrund, dem Verdeckten heraus. Sie führen »schwarze Listen« und agieren nach dem unerbittlichen Prinzip von »Aug um Aug« – und sobald sie weitere Unterstützung von außen bekommen werden, haben die Besatzer des Kristallimperiums noch weniger zu lachen.
Der außenstehende Beobachter mag angesichts dieser vermehrt zutage tretenden Barbarei von Grauen geschüttelt sein. Er mag sich fassungslos an den Kopf greifen und sich fragen, wie das mit dem allgemeinen Zivilisationsniveau in der Milchstraße des 14. Jahrhunderts NGZ vereinbar sei. Es sei sogar die Frage gestattet, ob die eingesetzten Mittel wirklich gerechtfertigt sind oder ob die ertrusischen Freiheitskämpfer nicht ebenfalls über die Stränge schlagen.
Fragen und Überlegungen wie diese werden jedoch von der auf Ertrus herrschenden Realität hinweggewischt. Wer die von Radio Freies Ertrus übertragenen Statements genau verfolgt, die Stimme der einfachen Leute, der Verfolgten und Unterdrückten, wird leider anerkennen müssen, daß ihnen gegenüber hochmoralische und pazifistische Argumente eher fehl am Platz sind.
Sie haben diesen Kampf mit alldem, was damit verbunden ist, nicht gewollt. Er wurde ihnen von den Gos’Tussanii aufgezwungen. Aber sie haben ihn angenommen, sie werden sich wehren, und Ertrus wird nicht fallen!
Auch für Perry Rhodan selbst stellen die Ereignisse einen markanten Wendepunkt dar. Er wird zwar weiterhin den umfassenden Krieg zu vermeiden suchen, aber er muß ebenso Farbe bekennen. Dem Imperator auf dem Kristallthron muß klar gemacht werden: Bis hierher und nicht weiter! Leider sagt sich das so einfach, und die Umsetzung in die Praxis ist um ein vielfaches schwerer.
Die bedrohliche Wolke des heraufziehenden Krieges wird zweifellos dunkel und dunkler. Die entscheidende Frage ist wohl, wie weit Bostich I. tatsächlich zu gehen bereit ist ...
Rainer Castor