Warnung: zuerst Roman lesen!
In der historischen Betrachtung ist es meist recht einfach, jene Schlüsselszenen festzumachen, die als geschichtliche Wendepunkte auf die weitere Entwicklung maßgeblichen Einfluß hatten. Für den einzelnen am Geschehen Beteiligten ist eine solche Beurteilung schon aufgrund seiner Einbindung im allgemeinen weniger eindeutig und klar. Aber es gibt auch Ereignisse, die durch ihre besondere »Stimmung« einen solch tiefen Eindruck hinterlassen, so daß über ihre Bedeutung kein Zweifel besteht.
Die Wahl der ertrusischen Untergrundregierung mit Kim Tasmaene als Präsidenten und Perry Rhodans Auftritt in der Gor-Oase von Chug gehören ganz sicher zu einem solchen Ereignis. Selbst wenn zuvor Zweifel bestanden haben sollten, spätestens mit der von Radio Freies Ertrus verbreiteten Information über die Vorgänge ist jedem auf Ertrus klar, daß der markige Ausspruch: »Ertrus fällt nicht!« alles andere als eine hohle Phrase ist. Die Welt der umweltangepaßten Terra-Nachkommen dürfte sich zu genau jenem Brocken entwickeln, an dem sich – langfristig gesehen – Imperator Bostich I. und sein Kristallimperium tüchtig verschlucken.
Mögen noch so viele Raumschiffe im Kreit-System stationiert sein, die Besatzer brutalste Härte an den Tag legen – unter dem Strich werden sie angesichts der ertrusischen Mentalität eher das Gegenteil erreichen. Das Joch der Unterdrückung läßt sich selbstverständlich durch markige Parolen alleine nicht abschütteln, bedeutsamer als kurzfristige äußere Erfolge sind in einer solchen Situation aber Moral und Verfassung der Betroffenen.
Seit ihren ersten Vorstößen in die Galaxis sind die Terraner für ihre Hartnäckigkeit, ihre Chuzpe, ihren Freiheitsdrang und auch für ihren Durchhaltewillen bekannt. Für ihre auf andere Planeten ausgewanderten Nachkommen gilt das in keinem geringeren Maß – was interne Zwiste durchaus mit einschloß, wie schon Iratio Hondro und seine Plophoser bewiesen und was sich nach dem Dolan-Desaster in der Gründung der diversen, vom Solaren Imperium abgespaltenen Nachfolgereiche fortsetzte.
Daß damals mit dem Carsualschen Bund gerade die Ertruser zu einer mächtigen eigenständigen Kraft heranwuchsen, ist den kristallimperialistischen Planern der Operation Stiller Riese natürlich ebenso bekannt wie die grundlegende terranische und terra-stämmige Mentalität. Ob die damit verbundenen Konsequenzen auf den Arkon-Welten und bei Bostich jedoch bis in die Einzelheiten hinein verstanden sind, dürfte bezweifelt werden.
Atlan, der die Entwicklung der »Barbaren von Larsaf III« über mehr als zehntausend Jahre hinweg beobachtete, hätte seinen Artgenossen auf dem Kristallthron zweifellos eindringlich gewarnt: Mag die Tendenz der Terraner, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, auch recht ausgeprägt sein – wehe aber, wenn jemand von außen kommt und sich einzumischen anmaßt oder gar meint, die Herrschaft übernehmen zu können. Dann nämlich stehen selbst die zerstrittenen »Barbaren« wie ein Mann Seite an Seite.
Beim Anblick der von Radio Freies Ertrus übertragenen Ereignisse in der Oase hätte Atlan wohl nur bedeutungsvoll genickt – und zweifellos gegen starke Impulse seines photographischen Gedächtnis anzukämpfen gehabt. Dem informierten Beobachter will sich nämlich ein vergleichbares Geschehen aufdrängen, prägnant umschrieben als der legendäre »Rütlischwur« von 1291.
Bei diesem schlossen kurz nach dem Tod Rudolfs von Habsburg die drei Talgemeinden Uri, Schwyz und Nidwalden einen »ewigen Landfriedensbund«. Ein Bündnis, das zunächst zur Verhinderung von Fehden in den Tälern gedacht war, sich aber zunehmend zu einem Verteidigungspakt gegen die habsburgische Vorherrschaft entwickelte und über Jahrhunderte das Selbstverständnis der schweizer Eidgenossen prägte.
Die Ähnlichkeiten in Szenerie, heraufbeschworenem Mythos und unübersehbarer Eindringlichkeit gehen sogar noch weiter. Vor diesem Hintergrund müßte sich Gaumarol da Bostich wohl Friedrich Schillers Wilhelm Tell genauer ansehen; dort ist im II. Aufzug, 2. Szene zu hören: Laßt uns den Eid des neuen Bundes schwören.
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Und sollte diese Passage noch nicht Warnung genug sein, dürfte das Schicksal des Tyrannen Hermann Geßler, Reichsvogt in Schwyz und Uri, letzte Zweifel beseitigen, was die Besatzer von den Ertrusern zu erwarten haben. Auch hierzu das Zitat aus Wilhelm Tell, IV. Aufzug, 3. Szene: Ein allzu milder Herrscher bin ich noch
Gegen dies Volk – die Zungen sind noch frei.
Es ist noch nicht ganz wie es soll gebändigt –
Doch es soll anders werden, ich gelob’ es,
Ich will ihn brechen diesen starren Sinn.
Den kecken Geist der Freiheit will ich beugen.
Ein neu Gesetz will ich in diesen Landen
Verkünden – Ich will.
Dann wird Geßler von Wilhelm Tells Pfeil durchbohrt!
Es ist »nur« ein Kürzel, eine auf wenige Worte zusammengefaßte Aussage, wenn überall und zu jeder Zeit das Ertrus fällt nicht! ausgesprochen wird. Doch was sich wirklich dahinter verbirgt, welche Widerstandskraft, Leidensfähigkeit und nicht zuletzt das unbedingte Durchhaltevermögen, werden die Besatzer des Kristallimperiums, die Gos’Tussanii, recht schnell zu spüren bekommen. Es ist das Symbol des freien Willens, der ungeahnte Kräfte frei setzt. Und es ist eine Botschaft an die gesamte Galaxis und alle anderen Völker.
Der 15. Oktober 1303 NGZ ist in jeder Hinsicht ein Schlüsseldatum, ein geschichtlicher Wendepunkt. Denn: Ertrus fällt nicht! – mag die Besatzung des Kristallimperiums noch so lange dauern.
Rainer Castor