Kein Staat kann es sich leisten, ohne geheim- und nachrichtendienstliche Organisationen auszukommen, denn ihnen obliegt das Sammeln und Auswerten von Informationen über die Aktivitäten von Gegnern des eigenen Staates im Inneren wie im Äußeren. Kern ist somit das Befassen mit sämtlichen geheimen politischen und militärischen Plänen und sonstigen geheimgehaltenen Vorgängen. Ein zweites Zentrum ihrer Tätigkeit betrifft die Abwehr politischer, militärischer, wirtschaftler und wissenschaftlicher Spionage.
Grob lassen sich deshalb die Bereiche Außenaufklärung, Innenaufklärung, Militärische Abschirmung und Geheimpolizei unterscheiden, dem als fünftes Element besondere Einsatzgruppen für Sabotage, Zersetzung, Infiltration, Terror und dergleichen hinzuzufügen sind.
Während jedoch in parlamentarisch-demokratischen Staaten diese Organisationen einer Kontrolle des Parlaments unterstehen (meist in Form eines entsprechenden Ausschusses als dem vom Parlament bestellten Organ), so daß Kompetenzüberschreitungen, Eigenmächtigkeiten oder rechtsstaatlich zweifelhafte Aktionen aufgedeckt oder unterbunden werden können, ist der Spielraum in diktatorischen Staaten deutlich größer – zumal hier vielfach die Funktion zur Kontrolle und Überwachung der Bürger ebenso hinzukommt wie die Nutzung als Instrument zur Unterdrückung oppositioneller Strömungen und Kräfte.
Aber unabhängig davon, wer sich nun dieser Organisationen bedient – ihre Wichtigkeit ist in keinem Fall zu unterschätzen. Um sich diese Bedeutung zu veranschaulichen, ist es manchmal ganz hilfreich, bei den alten Meistern nachzuschlagen. Ein »Standardwerk« in dieser Hinsicht, das eigentlich nur jedem Staatsmann als Pflichtlektüre ans Herz gelegt werden müßte, ist der von Sunzi (auch Sun Dse und ähnlich geschrieben) um 500 vor Christus verfaßte Text Die Kunst des Krieges. Lassen wir ihn deshalb an dieser Stelle zu Wort kommen: Was den weisen Herrscher und den guten General befähigt, zuzuschlagen und zu siegen und Dinge zu erreichen, die außerhalb der Fähigkeiten gewöhnlicher Männer liegen, ist Vorherwissen ... Deshalb der Einsatz von Spionen, von denen es fünf Klassen gibt ...
Eingeborene Spione zu haben bedeutet, sich der Dienste der Einwohner eines Landes zu versichern. Im Land des Feindes mußt du Leute durch freundliche Behandlung für dich gewinnen und als Spione benutzen.
Innere Spione zu haben bedeutet, die Beamten des Feindes zu benutzen ... Auf diese Weise wirst du fähig sein, die Verfassung des feindlichen Landes zu erkennen und die Pläne zu erfahren, die gegen dich geschmiedet werden; und außerdem kannst du die Harmonie stören und einen Keil zwischen den Herrscher und seine Minister treiben ...
Übergelaufene Spione zu haben bedeutet, die Spione des Feindes zu fassen und sie für eigene Zwecke einzusetzen: Mit großen Bestechungsgeldern und großzügigen Versprechungen müssen sie aus dem Dienst des Feindes gelöst und veranlaßt werden, falsche Informationen zurückzubringen und gleichzeitig gegen ihre Landsleute zu spionieren.
Todgeweihte Spione zu haben bedeutet, gewisse Dinge öffentlich zum Zwecke der Täuschung zu tun und zuzulassen, daß unsere eigenen Spione von ihnen erfahren und sie, da sie hintergangen wurden, dem Feind berichten. Diese Dinge sind auf die Täuschung unserer eigenen Spione ausgerichtet und sollen sie glauben machen, daß sie unabsichtlich bloßgestellt wurden. Wenn diese Spione dann hinter den Linien des Feindes gefangen werden, geben sie einen völlig falschen Bericht ab, und der Feind wird sich entsprechend verhalten, nur um festzustellen, daß wir etwas völlig anderes tun. Daraufhin wird man die Spione zum Tode verurteilen.
Überlebende Spione sind schließlich jene, die Informationen aus dem Lager des Feindes zurückbringen. Dies ist die übliche Klasse von Spionen, die in keiner Armee fehlen darf ...
Die Spione des Feindes, die zum Spionieren zu uns kommen, müssen entdeckt, mit Geldbestechungen verlockt, fortgeführt und bequem untergebracht werden. So werden sie zu übergelaufenen Spionen und stehen uns zur Verfügung. Durch die Informationen, die der übergelaufene Spion bringt, können wir eingeborene und innere Spione anwerben ... Seine Informationen machen es weiterhin möglich, den todgeweihten Spion mit falschen Informationen zum Feind zu schicken. Und schließlich kann durch seine Informationen der überlebende Spion zu bestimmten Zwecken benutzt werden.
Das Ziel und der Sinn der Spionage in allen fünf Erscheinungsformen ist es, Wissen über den Feind zu erlangen; und dieses Wissen kann in erster Linie nur vom übergelaufenen Spion kommen. Er bringt nicht nur selbst Informationen, sondern er macht es auch möglich, die anderen Arten von Spionen vorteilhaft zu nutzen ...
So werden der erleuchtete Herrscher und der weise General die Intelligentesten seiner Armee als Spione einsetzen und auf diese Weise hervorragende Erfolge erzielen. Spione sind ein äußerst wichtiges Element des Krieges, denn von ihnen hängt die Fähigkeit der Armee ab, sich zu bewegen ...
Ohne Aussicht auf Vorteile setz keine Armee in Bewegung. Ohne Aussicht auf Erfolg setz keine Truppen ein. Ohne Gefahr kein Kampf. Kein Herrscher soll aus Wut einen Krieg anfangen. Kein Feldherr soll aus Verärgerung eine Schlacht schlagen. Nur wenn Vorteile absehbar sind, soll man zum Kampf schreiten; sind keine Vorteile abzusehen, so soll man den Kampf unterlassen.
Die Wut des Herrschers mag sich wieder in Frohsinn, der Ärger des Generals wieder in Heiterkeit verwandeln. Doch ein Staat, der untergegangen ist, wird nicht wiedererstehen, und ebenso kann man Tote nicht wieder zum Leben erwecken ...
In hundert Schlachten Sieger zu sein ist nicht der Gipfel der Kriegskunst; der Gipfel der Kriegskunst ist es, die Armeen des Gegners ohne Blutvergießen niederzuzwingen ...
Dem gibt es wohl nichts hinzuzufügen.
Rainer Castor